Der Narr – Tarotkarte Nr 0 . Bedeutung
Manuel G | 13. April 2021

Von allen Karten der Großen Arkana durfte nur eine Karte in den neuen Standardblättern bleiben: der Narr, auch Possenreißer oder Joker genannte Andere Namen für ihn lauteten: Der Dumme Mann, der Tor, le Mat und el Loco - der Verrückte. Namen dieser Art weisen auf eine vorchristliche lunare Religion hin, deren Bräuche später als »Verrücktheiten« verschmäht wurden. Das englische Wort lunatic (»Mondsüchtiger«) bedeutete einstmals einen Verehrer der Mondgöttin unter ihrem klassischen Namen Luna. Einer ihrer älteren Namen, Mania, wurde ebenso ein Synonym für Verrücktheit.
Ursprünglich gebar Mania, die Mondmutter, die Vorfahren der Menschheit, die die Römer manes (Mondkinder) oder Di Parentes (alte Götter) nannten, deren Seelen immer noch auf der Erde weilten. Nordeuropäische Stämme kannten die gleiche Mondmutter als Mana; die Araber nannten sie Manat. Ihre erwählten Propheten und Sibyllen waren von Luna »getroffen« oder vom Mond »berührt«; das letztere führte im Umgangsenglisch zum Wort tetched (touched, d.h, gerührt, ergriffen). Manas besondere Kinder waren »Mondkälber«, Kinder der Mondkuh, ein Begriff, den man später für Liebende und Idioten verwendete. Als die heiligen Spiele (ludi) des Mondes (der Luna) ludicrous (spaßig, albern) wurden, verwandelten sich ihre Zeremonien- könige in Clowns, welche die alten (antic, d.h. Possen) Tänze aufführten. Sie wurden als >albern< bezeichnet, was als ein Attribut einer besonders gesegneten Person galt.
Der Tarot-Narr scheint auch im alten heidnischen Sinne >albern< gewesen zu sein. Seine typische Narrenkappe hat ihren Vorläufer im apex, einer konischen Mitra (vom römisch-persischen Gott Mitra), die vom römischen rituellen Hohepriester getragen wurde. Keltiberische Medaillen zeigten den Herrn des Todes mit der gleichen konischen Mütze, und er wurde als >He!mann< bezeichnet - als ein Mann, welcher der Unterweltsgöttin Hel diente, die sehr häufig mit dem Mond zwischen dessen Erscheinen und Untergehen gleichgesetzt wurde. Der altnordische Herr des Todes, Frey, trug ebenfalls die apex.
Noch früher war die Narrenkappe in Ägypten eine Würde des Zweilandes, welche auf den Häuptern der symbolischen Karnevalskönige saß, die einstmals als Ersatzopfer für die Pharaos dienten. Ihre Abbilder wurden bis zum 19 Jahrhundert jedes Jahr verbrannt, und sie stiegen dann wie der pharaonische Phoenix aus ihrer eigenen Asche auf/ In Symbolen, wie dem des Obelisken, stellte die apex den Phallus des Erdgottes (oder: des Gottes auf Erden) dar, der aufrecht stand, um die Königin des Himmels zu erreichen, die entweder Nut, Hathor oder Isis hieß. »In der Symbolik der Träume und der Mythen ist diese Mütze gewöhnlich der Phallus.« Tantrische Magier in Tibet tragen bis heute die gleiche konische Kappe, um ihre Einheit mit der Göttin zu demonstrieren. Ein anderer Name für den Karnevalskönig mit der Narrenkappe im mittelalterlichen Europa war tantrischer Herkunft: »Prinz der Liebe«.
Die an die konische Mütze des Narren angebrachten >Eselsohren< kommen wahrscheinlich aus der ägyptischen Tradition. »Du Esel« (engl. Asinine, dumm, töricht) wurde zu einem abschätzigen Begriff und der Esel bekam einen schlechten Ruf und nur aus dem Grunde, weil er in vorchristlicher Zeit als heilig galt, besonders in Ägypten. Der Eselsgott (eigentlich ein Okapi) Set wurde stellvertretend für den göttlichen Osiris (dessen böser Bruder er war) ans Kreuz geschlagen. Selbst Jesus ritt in seiner Rolle als heiliger König auf einem jungen Esel inmitten anderer traditioneller Ausstattungen des heiligen Triumphzuges (siehe Joh. 12,14). Sein Schilfszepter war vielleicht auch mit zwei Eselsohren versehen, genauso wie das Schilfszepter des gekreuzigten Set, welches zum Hohheitszeichen aller dynastischen Götter wurde. Das gleiche Eselsohrszepter wurde von den mittelalterlichen Possenreißern (engl, jester) und Karnevalskönigen übernommen.
Das Kostüm des Narren und dessen Späße weisen auf einen alten orientalischen Ursprung hin. >Jester< wurde im Spanischen zu chistu, was wiederum abgeleitet ist aus Chisti, einer indischen Sufischule. Mitglieder dieses Ordens erschienen im 13.Jahrhundert in Europa. Sie zogen die Massen durch ihre Musik, ihr Trommelspiel, ihre Tänze und Pferdespiele an; sie führten Mysterienspiele auf, die eine religiöse Aussage besaßen. Ähnliche Sufi-Derwische führten im ganzen Orient Mysterienspiele auf, indem sie oftmals Dummheit vortäuschten und sich selbst als »Narren Gottes« ausgaben. Der bekannte Mulla Nasruddin ist ein gutes Beispiel dafür.
Einige Tarotblätter zeigten den Narren in Laub gekleidet, wie beim Grünen Mann, Grünen Georg, der die Frühlingsprozessionen bei europäischen Volksfesten anführte. Der Tag des Grünen Georgs war der Ostermontag, der Mond-Tag des Mondhelden. Später wurde er zum Tag des Heiligen Georgs christianisiert und zwar unter der
Vortäuschung, Georg symbolisiere den gerade auferstandenen Christus in frühlingshaftem Laubwerk gekleidet. Die traditionelle Religion konnte so Christus mit dem Fruchtbarkeitsgott identifizieren, der im Frühling geopfert wurde. Einige sagten, Christus sei am 1. April, dem Narrentag, ans Kreuz geschlagen worden, der am Ende der Heiligen Woche der Heiden lag und ehemals als Tag der Auferstehung des Attis (der sich aus Leidenschaft für Cybele selbst entmannt hatte) mit allerlei Späßen und Umzügen während des Festes der »Verrücktheit«, Hilaria, gefeiert wurde.
Wenn der Narr mit einer heidnischen Christusfigur wie Attis verglichen wurde, dann konnte dies nur auf einer frühen, unerleuchteten, infantilen Stufe des Leben des Helden gewesen sein. Der Tarotnarr trug einen Sack, der mit einem Stab über seiner Schulter hing. Man glaubte gewöhnlich, daß dieser Sack die Symbole der Elemente (der Farben) enthielt, die auf der folgenden Karte auf dem Tisch des Magiers offen zur Schau gelegt wurden. Da man den Farben zusprach, das Schicksal des Fragestellers — der im Yoni-Yantra-Muster vom Narren repräsentiert wurde - zu offenbaren, so waren auch die Farbensymbole in seinem Sack dazu in der Lage, obwohl der Narr nicht sehen konnte, was im Sack war. In der christlichen Ikonographie wird das Christuskind, das vom Himmel in den Schoß seiner Mutter eintritt, gleichfalls als blind gegenüber seinem letztendlichen Schicksal gezeigt; dies wird anhand eines Miniaturkreuzes, welches auf einem Stab über seiner Schulter hängt, versinnbildlicht.
Die Unwissenheit war ein hervorstechendes Merkmal des gesegneten bzw. >albernen< (engl, silly) Narren, dessen Zahl 0 gleichgesetzt wurde mit »dem Alter des Kindes vor seinem ersten Geburtstag.« Die ovale Null entstand als ein Symbol des Welteneies und dementsprechend aller embryonalen Anfänge. Die gnostischen Lehren von der Seelenwanderung lehrten, daß die Seele vor jeder Wiedergeburt von den Wassern des Lethe (Strom des Vergessens) trinken mußte, um die Erinnerungen an die vorhergegangenen Leben auszulöschen und den Geist zu einer Null werden zu lassen. In der tantrischen Tradition war diese infantile Unwissenheit avidya, »das Fehlen von Wissen« oder aber ein unbewußter Wille, der das Neugeborene bewegt, bevor überhaupt die Gründe des Lebenswunsches verstanden werden können.
Auf dem tantrischen Rad des Karma wurde diese Unwissenheit zu Beginn des Lebens durch einen blinden Mann, der auf einen Abgrund zuschreitet, dargestellt. Bei einigen frühen Tarotblättern wurde ebenfalls der Narr kurz vor einem Fall dargestellt. Ein anderer seiner Namen, Adam-Kadmon, war das gnostische Bild der unschuldigen, neugeborenen (oder wiedergeborenen) Seele zu Beginn eines neuen Äons entweder auf der individuellen oder der kosmischen Ebene.
Vielleicht wegen dieser Qualität der Unwissenheit entging die Karte des Narren den Angriffen der Kirchenmänner; sie überlebte und wurde zum heutigen Joker. Der Narr kann gleichgesetzt werden mit Adam vor dem Sündenfall; er war aufgrund seiner Unwissenheit ohne Sünde. Als die heidnischen Mysterien in der Karnevalsnarretei Zuflucht fanden, überlebte der Narr wegen seines unbedenklichen Charakters, wie die heidnischen Helden vor ihrer Erleuchtung. Auch der »Erwünschte Ritter< des Gralsmythos begann als ein bäuerlicher, unwissender und unschuldiger Clown; dies war sein Zustand vor dem Erwachen zu den mystischen Bedeutungen der Suche, welche - unter einer dünnen christlichen Schicht - die Suche nach dem unvergessenen heidnischen Symbol des Heiligen Mutterschoßes aller Wiedergeburten, dem Kessel der Erneuerung, war.
Man kann zu dem Schluß kommen, daß der Narr den unerleuchteten Menschen symbolisierte, der noch nichts über die heidnischen Mysterien weiß, die sich in den darauffolgenden Karten der Tarottrümpfe offenbaren, so wie der geheiligte König, der die paginae anführt und nicht unbedingt weiß, was ihm folgt. Aus diesem Grunde durfte der Narr beim Kartenspiel bleiben, aber nicht direkt im Spiel; er lehrte keine Häresien.
Da die anderen Trümpfe mit Sicherheit etwas mitzuteilen hatten, wurde der Narr zu einer Art Novize, der am Beginn seiner Reise zur Erleuchtung - die ihn mit der Karte der >Welt< erwartete - stand. Er schreitete immer voran, und begann eine Reise, deren Fallstricke er scheinbar nicht vorhersah.
Seine Beziehung zur entsprechenden Karte des spirituellen Bereiches (im Unendlichkeitsmuster), das »Jüngste Gericht< (engl. >jugdment<, oder »Last Judgment’) (Trumpf Nr.20), kann auf verschiedenen Ebenen verstanden werden. Urteilsvermögen (judgment) ist genau jene Qualität, die dem Narren fehlt, bis er sie durch die Einweihung und seine Erfahrung erlangt. »Das jüngste Gericht< wurde auch als konventionelles Bild des »jüngsten Tages< interpretiert, wenn die Toten aus ihren Gräbern auferstehen und der Engel die letzte Posaune (engl, trump) bläst - tatsächlich aber auf die letzte Trumpfkarte hinweist. Christen und Heiden haben dieselbe Vorstellung über die Ereignisse des Weltenendes. Auf einer tiefen psychologischen Ebene formalisieren und projizieren Weltuntergangsvorhersagen die Todesängste eines jeden Menschen. Auch wenn Christen diese Lehre ablehnten, glaubten die Heiden und Gnostiker an eine Wiedergeburt, die nach jedes
Menschen »jüngstem Gericht< komme» Demgemäß wurde der Narr nach jeder Drehung der schicksalshaften »Räder des Werdens< aus den Reihen der Toten (oder Unerleuchteten) wiedergeboren, um eie neues Leben voller Lernen zu beginnen.
Gewöhnlich befand sich auf der Karte des Narren ein huedeähnliches Tier, welches nach des Narren Fersen schnappte. In vielen alten Glaubenslehren, einschließlich der ägyptischen, symbolisierte der Hund den Tod und bewachte die Tore zur Nachwelt - so wie es auf der Tarotkarte »der Mond< abgebildet ist. Aus diesem Grunde scheint die Karte des Narren auf ein späteres Entrinnen vor dem Tode hinzuwei“ sen, so wie es in den heidnischen als auch in den christlichen Mysterien versprochen wird.
Manchmal folgte der Narr einem Schmetterling, den die Griechen »Psyche< nannten, und der ein Symbol für die Seele war. Zeitweilig herrschte der Glaube vor, daß die menschlichen Seelen nach dem Tode die Formen fliegender Wesen wie die von Vögeln und Insekten annahmen. Manchmal trug der Narr eine Blume, die mystische alchemistische Rose, ein weiteres Abbild der weiblichen Weltseele, die das Ziel vieler spiritueller Sucher war.
Wie viele andere Beispiele folkloristischer Narreteien bedeutete der Narr viel mehr, als oberflächlich zu erkennen war.
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