
Der siebte Trumpf wurde unterschiedlich als >der Wagenlenker<, >der Siegeswagen< oder >der siegreiche König< bezeichnet. Traditionelle Abbildungen zeigen einen jungen Helden, der anscheinend sowohl in der Liebe als auch im Kampf erfolgreich ist, der die siebte Einweihungsstufe erreicht hat oder gerade auf dem Höhepunkt seiner jugendlichen Männlichkeit im Alter von 21 Jahren nach dem Yoni-Yantra-Muster erreicht hat. Mit seinen vier Pfeilern und seinem blauen, sternenüber- säten Baldachin stellt der Triumphwagen ganz eindeutig die Welt dar.Der Held scheint über sie zu gebieten. Als Parallele zu den Lebenserfahrungen räumte das Tarot auch dem Stolz eines jungen Erwachsenen einen Platz ein; dies war der kurze Augenblick der Überzeugung, daß nach der Karte der Vermählung eine Art Paradies erlangt worden ist.
Als Folge seiner Vermählung mit Kali erwarb Shiva den Charakter des Jagannatha, des »Herrn der Welt«. Seine Welt stellte man sich als gigantischen Triumphwagen vor, der auf den Spuren der Zeit entlangrollte. Die großen tantrischen Tempel in Khajuraho und Konarak wurden errichtet, um diesen Triumphwagen mit seinen Rädern und allem übrigen darzustellen.3Während des jährlich stattfindenden Triumphzuges des Gottes thronte sein Abbild auf einem anderen riesigen Triumphwagen, den seine Verehrer zogen und von denen einige den Märtyrertod suchten, indem sie sich unter die schweren Räder des Wagens warfen. Aus diesem hinduistischen Opfertod entstand das englische Wort >Juggernaut< (blutrünstiger Götze, Moloch), eine typische Verfälschung des Wortes Jagannatha.
Der König der Welt repräsentierte den vergänglichen irdischen Ruhm. Wie jeder andere orientalische Gott-König war er nach dem Erreichen des Höhepunktes seiner Macht dem unausweichlichen Untergang geweiht. Ein neuer Kreislauf von Tod und Auferstehung würde seinem Triumph folgen. Dies könnte auch der Grund für die numerische Entsprechung zwischen dieser Karte und dem Trumpf Nr. 13, >der Tod<, gewesen sein. Es wurde für notwendig gehalten, daß sich ein Held seiner karmischen Schuld bewußt war, auch wenn er gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Der Tod lauerte immer im Hintergrund.
Obwohl die orientalischen Höflinge ihre Herrscher ehrerbietig mit »Oh König, lebe ewiglich« grüßten, so wußte doch jeder, daß auch der König sterblich war. Die pragmatischen Römer versuchten niemals, die Sterblichkeit eines Herrschers zu vertuschen. Wenn ein römischer Held durch einen Triumphzug geehrt wurde, stand eine maskierte Personifizierung des Todes neben ihm auf dem Wagen und flüsterte ihm ins Ohr: »Mensch, vergiß nicht, daß du sterblich bist.«
Der prototypische römische Triumphwagenlenker war der Gott Mars, ein Sohn der gesegneten Jungfrau Juno. Das Liber Imaginum Deorum aus dem zwölften Jahrhundert besagt, daß Mars in seinem Wagen die Herrschaft, den Ruhm, den Krieg und den Tod symbolisierte. Der römische Mars stellte eine spätere Entwicklung des sehr viel älteren sabinischen Fruchtbarkeitsgottes dar, der aus der berühmten kapitolinischen Trinität Juventas-Juno-Minerva geboren und jedes Jahr getötet wurde, um - wie alle anderen Vegetationsgötter - wieder aufzuerstehen. Dieser kann wiederum auf den vor-vedischen >roten Gott< Rudra zurückgeführt werden, der den Beinamen Tryambaka trug, was soviel heißt wie »der, der zu den drei Muttergöttinen gehört«. In seiner Heimat verschmolz Rudra sowohl mit Shiva als auch mit Krishna, der dem Prinzen Arjuna in Verkleidung eines göttlichen Wagenlenkers die Geheimnisse des Schicksals erklärte. Daß die Geheimnisse des Schicksals ein Bewußtsein vom Tod beinhalteten, war bereits im dritten Jahrtausend v.Chr. aus Akkad - das auf halbem Wege zwischen Europa und Indien lag - überliefert. Dort wurde die Straße zum Tod entweder als »Straße ohne Rückkehr« oder als »die Strecke des Triumphwagens« bezeichnet.
Rote wagenlenkende Helden, die nach ihrem ruhmvollen Höhepunkt einen Märtyrertod erlitten, personifizierten gelegentlich die Sonne; beispielhaft dafür sind die griechischen Mythen von Hippolytus, Phaethon und Helios. Die Menschen Nordeuropas nannten den Lenker des Sonnenwagens Njord, »der erste Gott der Schweden, bevor Odin andere Gottheiten aus Asien einführte.« Njord symbolisierte die sinkende Sonne in der zweiten Hälfte des Jahres, während sein anderes Ich Frey die aufsteigende Sonne der ersten Jahreshälfte darstellte. Zusammen waren Njord und Frey blotgodar («Blutgötter«), die sich - wie Horus und Seth in Ägypten - gegenseitig opferten. Jedes Jahr zur Juletide (Wintersonnwende), als Frey innerhalb von zwölf Tagen wiedergeboren wurde, war es verboten, Wagenräder rollen zu lassen - egal, was für Gründe bestanden. Arische Könige von Indien bis Irland wurden mit dem göttlichen Wagenlenker verglichen. Ihre Titel weisen auf einen gemeinsamen Ursprung hin: der vedische raj, König, hieß
lateinisch reg oder rex, keltisch rig und fränkösch roi.
Der heidnische Lenker des Sonnenwagens verschmolz mit dem heiligen König der Wälder im bretonischen Kult von Diana Nemetona und ging ein in Ritterromanzen, wie z.B. in Chretien de Troyes berühmtes Gedicht Le Chevalier de la Charette (Der Ritter des Triumphwagens). Wie bei allen Rittererzählungen stellte das Drama eine Allegorie auf die verbotenen religiösen Glaubensvorstellungen dar und übertrug diese in die Bereiche der höfischen Liebe.
Nach der platonischen Idee, wie sie im Phaedrus dargelegt und von mittelalterlichen Gelehrten verbreitet wurde, symbolisierte der Wagenlenker die menschliche Seele. Himmlische Wagenlenker ritten die himmlischen Winde, bis sie ihren geflügelten Wagen verloren und zur Erde fielen, um als Menschen wiedergeboren zu werden. Dann »kam die Einkerkerung im Körper, bis Eros den Seelen genügend Stärke verlieh, um einen neuen Aufstieg zu machen.« Östliche Philosophen bezeichneten die Seele (oder den Geist) als den Wagenlenker des Körpers und die sinnlichen Begierden als dessen Pferde. Auf der makrokosmischen Ebene ist der große Gott Jagannatha die Überseele, die den Wagen des Weltenkörpers lenkt. In der Katha Upanischad müssen die Pferde der Begierde vom Wagenlenker straff am Zügel gehalten werden. Der wahre Heilige ist derjenige, der »die Sinne kontrollieren kann; er ist der Sucher nach der Wahrheit, fortwährend im Gebet, und der seine Lust und andere Leidenschaften geopfert hat.« Carl Jung unterstrich gleichfalls, daß Pferde in der Traum- und Phantasiesymbolik gewöhnlich die unkontrollierbaren emotionalen Triebe darstellen.
Die Pferde des Tarotwagens lohnen eine genauere Untersuchung. Sie sind immer mit zwei kontrastierenden Farben - wie Tag und Nacht - ausgestattet; manchmal sind es deutlich Pferde, manchmal aber auch hundeähnliche Tiere, ähnlich den lunaren Todeshunden, manchmal werden sie auch als Sphinxe mit weiblichen Brüsten und gelegentlich als seltsame zweiköpfige Wesen mit vier Vorderbeinen und ohne Hinterbeine dargestellt. Auf allen Darstellungen ziehen die Tiere in gegensätzliche Richtungen. Diese Formen könnten von der ägyptischen Hieroglyphe für xerefu und akeru stammten, »die Löwen von Gestern und Heute.« Die geheime Bedeutung davon war, daß Mutter Hathor, die Sphinx, den Ablauf der Zeit regierte und in dieser Gestalt die Helden verschlang, ganz gleich wie erfolgreich oder >zeitlos< deren irdischen Taten sie auch machten.
Es erscheint merkwürdig, daß die Figur auf dem Wagen diesen nur selten selbst lenkte. Die meisten Blätter zeigen ihn ohne Zügel. Er stand einfach nur aufrecht in seinem Gefährt, während die Tiere ihrem eigenen Weg folgten und in verschiedene Richtungen strebten, als könnten sie vielleicht sogar den Wagen in zwei Hälften zerreißen. Die Aussage der Karte kann eine Folgerung aus Karte >Der Tod< (Trumpf Nr. 13) sein: der Mensch kann sein Schicksal nicht bestimmen, auch wenn er dies zuweilen glaubt.
Die östlichen Weisen betonten fortwährend die Nutzlosigkeit des Stolzes über irdischen Ruhm, der nur vom Schicksal (Karma) ausgeteilt und bald durch ein anderes abgelöst würde. Ein stolzer Held mußte noch die Weisheit des »wahren Selbst« erlangen, welches allein in der Lage sei, das unerbittliche Drehen des karmischen Rades zu begreifen, das wie ein Juggernaut-Wagen nicht zu stoppen ist. »Wer sein wahres Selbst erkannt hat, betrachtet dieses Durchgangsleben wie das Vorbeirollen eines Wagenrades.«
Im Europa der Renaissance wurden Umzüge und Paraden genau wie die alten römischen Triumphzüge durchgeführt, um die Zelebritäten zu feiern, die zusammen mit allegorischen Figuren mythologischen Ursprungs auf dem Triumphwagen fuhren. Manchmal fanden die Umzüge nicht auf öffentlichen Straßen zum Zwecke der Unterhaltung der Massen statt, sondern wurden als private Vorführungen für die Bewohner eines Schlosses organisiert. Dann rollten geschmückte Wagen im Innenhof des Schlosses immer im Kreis herum und wurden von den Fenstern aus beobachtet. Dies nannte man ein carrousel, eine Wagenrunde.
Genau wie viele andere heidnische Symbole wurde das Karrusell in die Karnevalsbräuche übernommen und zum Vergnügungsvehikel für Kinder. Heute sind seine Wagen fest auf einer Drehscheibe verankert, und die Pferde sind mechanisch. Im Englischen nennt man es »merry-go-round«. Aber seine tiefere Bedeutung war nicht so fröhlich (engl, merry), denn es hat seinen Ursprung im drehenden Rad des Schicksals.
Den Triumphwagen zu besteigen stellt heute keine Gefahr mehr dar. Dennoch ist die Botschaft des Tarot für den modernen Helden durchaus von Wert. Wie die nachfolgenden Karten klarmachen, muß der frisch vermählte Aspirant auf dem Weg zu weltlichem Erfolg aufpassen, daß dies kein Weg ist, der zur Hölle führt.
Hinterlasse einen Kommentar