Die Mäßigkeit – Tarotkarte Nr 14 . Bedeutung

Manuel GarManuel G | 13. April 2021

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Viele Tarotdeuter haben über die Stellung des wohlwollend blikkenden Engels der Mäßigkeit zwischen solch unheilvollen Karten wie >Der Tod< und >Der Teufeh gerätselt. Dies ist ein weiterer Beweis für die nicht-christlichen Ursprünge des Tarots. In der christlichen Tradition war die Unterwelt von Feuer drohenden Teufeln und nicht von Wasser umfüllenden Engeln besiedelt.

Der wahre Schlüssel für die Erscheinung des Engels lag in dessen Beziehung zur Karte >Die Liebendem. In den gnostisch-alchemistischen Texten wird die Liebe zwischen Tod und Teufel plaziert: »Was ist stärker als Hölle und Tod? Die Liebe ist die triumphale Bezwingerin beider... Liebe ist um- und verwandelnder Art. Die großartige Wirkung der Liebe besteht darin, alle Dinge in ihre eigene Natur umzuwandeln, welche nur Güte, Süße und Vollkommenheit ist.«

Warum aber sollte die umwandelnde Liebe durch einen Engel dargestellt werden, der Wasser von einem Gefäß ins andere goß?

Die Antwort ist in der uralten Vergangenheit von Südostasien, Mesopotamien und Ägypten zu finden, wo das Vermischen des männlichen und weiblichen Wassers die kosmische sexuelle Vereinigung darstellt. In den sumerisch-babylonischen Mythen geschieht die kosmische Befruchtung der Schöpfung, die Geburt der Welt, durch das Eingießen der Samenflüssigkeit Apsus, des Himmelsvaters, in die Uteruswasser Tiamats, der Meeresmutter, aus deren »Tiefen« alles geboren wurde.

Es war eine allgemeingültige mythologische Vorstellung, die Vatergötter als Regenmacher und die Muttergöttinnen als Verkörperungen des Meeres zu betrachten. Nach hinduistischen Texten war die vollkommen gesegnete Verbindung zwischen dem Gott und der Göttin (Shiva und Kali) »wie das fließen von Wasser ins Wasser«, und jede menschliche sexuelle Vereinigung war dagegen ein kurzes, unvollkommenes Echo dieser kosmischen Vereinigung/

In Indien ist heute noch ein Wassergefäß ein geheiligtes Symbol, das den Gott in seiner Eigenschaft als kosmischer Liebender repräsentiert. »Das Wasser wird während der Zeit des Gottesdienstes als Wohnsitz oder Thron (pitha) des Gottes betrachtet.« Das Wort pitba ist dem griechischen pithos verwandt und stellt ein Gefäß oder eine Vase dar, die im Kult der Demeter als »Herrin der Erde und des Meeres« den Schoß der Wiedergeburt symbolisiert. Die Figur der Mäßigkeit im Tarot beherrschte die gleichen zwei weiblichen Elemente, denn sie stand mit dem einen Fuß auf der Erde und mit dem anderen im Wasser. In mittelalterlichen magischen Texten war dies auch die Stellung der Isis.

In seiner menschlichen Inkarnation des ursprünglichen Regenvaters wurde dem babylonischen Retter Nebo bei den Triumphzügen für seinen jährlich stattfindenden Liebestod sein eigenes Symbol, ein Wassergefäß, vorangetragen; es wurde von einem für diesen Zweck besonders ernannten Gefäß träger geschleppt. Ein solcher Mann trägt auch bei den Vorbereitungen zum Abendmahl einen Wasserkrug zum Treffpunkt voraus (Luk. 22,10). Dies stellt ein bislang nicht erklärtes Detail christlicher Symbolik dar, und kann nur als eine christliche Nachahmung der heidnischen heiligen Vermählung gedeutet werden.

Der ägyptische Rettergott Osiris war ein weiteres dieser »männlichen Gefäße«, das zu seinem Liebestod als Wasser in einem Krug getragen wurde. Wie Shivas Braut, Mutter, Schwester, Shakti, Verschlingerin Kali war Osiris< Braut, Mutter, Schwester, Shakti, Verschlingerin Isis das weibliche Wasser in einer anderen Vase. Zusammen stellten diese beiden Vasen das allgegenwärtige menat dar, welches in der sakralen Kunst als Zeichen von Göttern, Göttinnen, Pharaonen, Priesterinnen, Priester und menschlichen Wesen in der Unterwelt immer wieder auftaucht. Dieses heilige Amulett bestand aus einem engen männlichen Gefäß, dessen Flüssigkeit in ein breiteres weibliches Gefäß fließt. In der Hieroglyphenform bedeutete menat Geschlechtsverkehr und drückte gleichzeitig das Mysterium der Befruchtung aus. Es steigerte angeblich die Zeugungskraft des Osiris, wenn er als ithyphallischer Gott Min (»Liebe«) wiederauferstand und man begrüßte ihn als den, »der seine Mutter schwängert.« Mehrere Namen und Bezeichnungen für diese Mutter, wie z.B. Isis, Nut, Königin des Himmels, Große Mutter, waren auch Bezeichnungen für die Tarotkarte >Die Mäßigkeit^

Das menat war im alten Ägypten ein ebenso beliebtes Amulett wie das Kruzifix im christlichen Europa. Sein Hauptzweck war, die Fähigkeit zur Sexualität im Leben nach dem Tode sicherzustellen: ein wichtiger Gesichtspunkt für die Ägypter, die sich ein Paradies ohne Familienbande und sexuelle Liebe nicht vorstellen konnten. Sie hätten den christlichen Himmel nicht gemocht, wo es »keine Verlobung oder Vermählung« geben würde, wie es Jesus ausdrückte (Matth. 22,30).

Wie die Ägypter verehrten auch die griechischen Kabiren die Göttin und den Gott als zwei Gefäße voll Wasser* Die kabirischen Mysterien wurden an Bekanntheit nur von den eleusinischen übertroffen und die sexuellen Orgien trugen ohne Zweifel zu ihrer Bekanntheit bei. Der junge Gott namens Cabirius, Ganymed oder Hermes schüttete seine »Wasser« in ein großes Gefäß, welches die Mutter darstellte: Demeter Cabiria, Herrin der Erde und des Meeres. Der große Krug, ein archetypisches Schoßsymbol, war der von den nordeuropäischen Heiden bezeichnete Kessel der Erneuerung, der später mit dem Heiligen Gral verwechselt wurde. Diese Verwechslung mag aus der gnostischen Vorstellung herrühren, daß das Gefäß mit Jesus Blut in Wirklichkeit nicht eines, sondern zwei Gefäße waren - wie das sexuelle menat. Auf Raphaels Bild Die Kreuzigung wird ein weiblicher Engel mit Flügeln, ähnlich dem Engel der Mäßigkeit, dargestellt, der das Blut des sterbenden Jesus in zwei Gefäßen auffängt.

Das Auftauchen der Mäßigkeit als Trumpf Nr.14 bezieht sich wahrscheinlich auf das Mysterium der Liebe jenseits des Todes. Osiris verweilte 14 Tage in der Unterwelt. Seine Rundreise von der tiefsten Grube bis zur Himmelshöhe dauerte einen Mondzyklus. Sein Körper wurde in 14 Teilen verstreut, ein Teil für jede Nacht des abnehmenden Mondes. In vielen ähnlichen Mythen war es die erhaltende Kraft der weiblichen Liebe, die den Helden aus der Unterwelt wieder zurückbrachte. Osiris brauchte Isis, Tammuz brauchte Ishtar, Adonis brauchte Aphrodite; sogar Dante brauchte seine Beatrice, um die Reise aus den niederen Regionen bis zum himmlischen Berg durchzuführen.

Der Begriff >Temperance< (Mäßigkeit) scheint nicht von der allgemeinen Bedeutung dieses Wortes abgeleitet zu sein: Maßhalten oder Abstinenz (von alkoholischen Getränken). Es ist viel eher eine Ableitung des lateinischen tempor, eine Zeitperiode, wie die biblische »Zeit für alle Dinge unter dem Himmel.« Der Engel der beiden Krüge kann die »Zeit der Liebe« dargestellt haben. Temperare bedeutet auch mischen, vermischen, verbinden oder die Elemente in der richtigen Zeit zu mischen. Im astrologischen Sinn erzeugt das Mischen des Engels »Temperament« - jene Mischung grundlegender Temperamente, die jeden individuellen Charakter ausmachen. Schon in Babylon sprach man in sakralen Schriften von der Weisen Göttin (oder Greisin), die die Elemente mischte, um alle Dinge ihrer Jahreszeit entsprechend herzustellen; der Himmel war ihre Mischschüssel aus Lapislazuli.

Eine weitere der Temperance zugeschriebene okkulte Bedeutung war das »Härten« (engl, tempering) des männlichen Schwertes (Phallus) im heiligen Feuer der Leidenschaft; diese Vorstellung entstammt der sexuellen Mystik der Kabiren und anderer Gruppen* Die Beziehung der Karte >Mäßigkeit< mit der Karte >Die Liebendem legt eine sexuelle Interpretation nahe. In mehreren alten Tarotblättern hält der Bräutigam auf der Karte der Liebenden sein Schwert direkt vor seinem Geschlechtsteil.

Mäßigung war auch ein Ratschlag für Liebende, der vielleicht von der älteren Frau auf dem Trumpf Nr.6 dem jungen Paar mit auf den Weg gegeben wurde. Für die Ehe bedurfte es des passenden >Temperaments<, welches durch die >Mäßigung< des Verhaltens mit Höflichkeit und Güte entwickelt werden mußte. Die Männer im Mittelalter konnten Derartiges nur im >Untergrund< der Ketzerei lernen, denn die etablierte Kirche lehrte, daß Frauen Sklavinnen sein sollten.

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