Die Welt – Tarotkarte Nr 21 . Bedeutung
Manuel G | 13. April 2021

Der wahre letzte Trumpf trug wie die abgebildete Göttin viele Namen. Sie wurde als Eva, Shekina, Mutter Natur, Wahrheit, die Braut, das geordnete Ganze, das große Glück, Anima Merkur, das Universum oder die Welt bezeichnet. Jene Göttin, die alle diese Aspekte integrierte war eine westliche Darstellung der Weltseele, Mahadevi, Kali-Shakti, die den europäischen Mystikern als die »weibliche höchste Realität« bekannt war. In ihrer archetypischen Form wurde sie von Jung als die weibliche Seele bezeichnet, die sich in jeder Mutter und in jeder Geliebten unabdingbar personifiziert, ein »immer gegenwärtiges und zeitloses Bild, welches der tiefsten Realität im Menschen entspricht. «
Einige ihrer tausend Namen im Osten lauteten: Kali, Sarasvati, Lakshmi, Gayatri, Durga, Annapurna, Sati, Uma, Parvati, Gauri, Bagala, Matagini, Dhumavati, Tara, Bhairavi, Kundalini, Bharga, Devata, Maheshvari, Maya, Cunti, Kurukalla, Hariti, Savitri und viele mehr. Shakti ist die kosmische Energie, die jedem Gott und jedem Wesen seine Kraft verleiht. Shakti bedeutet »Fähigkeit, Begabung, Kraft, Stärke, Energie, Tapferkeit, herrschaftliche Macht, die Fähigkeit zur Dichtung und Poesie, Genie, die Macht der Bedeutsamkeit des Wortes oder Ausdrucks; die Macht, einer Ursache die entsprechende Wirkung zu verleihen. Shakti ist das weibliche Geschlecht; Shakti ist der aktive Aspekt einer Gottheit und wird als dessen göttliche Gefährtin und Königin personifiziert und mythologisiert.« Zu dieser Macht sowohl psychisch als auch physisch vorzudringen war das Ziel eines jeden Mystikers. »Sie, die kosmische Shaki, zu besitzen, die lebendige Verkörperung der Schönheit und der ewigen Jugend, ist das höchste Ziel, ist der höchste Lohn, Sie ist es, nach der man sich sehnt, die man gewinnt und wieder verliert.« Und sie ist es, die am Schluß der Großen Arkana steht.
In den östlichen Schriften verehren die Heiligen und Weisen sie folgendermaßen: »Sie, die reines Sein-Bewußtsein-Seligkeit ist, als Kraft (Shakti), die als Zeit und Raum existiert und als alles, was darin vorhanden ist, und die die strahlendste aller Wesen ist.« Sie erklärten: »Alles ist die Mutter und sie ist die Realität an sich. Sa’ham (»ich bin sie«) sagte der Sakta und alles was er wahrnimmt, ist Sie in der Form, in der er Sie erfährt. Sie ist es, die in und durch ihn den heiligen Wein trinkt, und Sie ist der Wein.« Sie war »Alpha und Omega«, was im griechischen Neuplatonismus schließlich zum christlichen Logos evol- vierte; in ihrem gestaltlosen Aspekt war sie »der fruchtbare Schoß von Allem, der Anfang und das Ende aller Wesen.«
Vor 2000 Jahren übernahm der Philosoph Plotin die östliche Vorstellung über die Mutter und integrierte sie in sein Konzept von der universalen Seele oder Psyche, eine Übersetzung des Wortes Shakti. Indem man ihr eigenes Abbild oder Reflektionen in die niedere Welt der Materie projiziert, dann, so sagte er, »erscheinen die Phänomene des wahrnehmbaren Universums.«8Um sie in ihrer Essenz zu erkennen, muß der Mystiker stufenweise Vorgehen: über den »Anblick einer schönen Frau«, der Erkenntnis der individuellen weiblichen Schönheit bis hin zur Kontemplation der universalen Schönheit. Ihre mystische Dreiheit bestand wie die der Kali aus Zeit, Materie und Geist, die sich alle zusammen zum »großen Tanz des Universums« vereinten.
Der kosmische Tanz offenbart sich auch in der Pose der Weltgöttin im Tarot: sie beugt ein Knie wie die Figur im ägyptischen Hieroglyphensymbol des Tanzes; es ist die gleiche Stellung, die der Gehängte während seiner todesähnlichen Kontemplation einnimmt. Die Ägypter betrachten genau wie die Hindus das aktive Prinzip bzw. den Herzschlag des Kosmos als einen Tanz, der von einer Göttin namens Isis bzw. »die Eine, die alle ist« erschaffen wurde. Vor mehr als 3000 Jahren rief man sie in ägyptischen Hymnen an, die denen der Kali-Shakti sehr ähnlich sind:
»Du, die alles überragt, Herrscherin und Frau des Grabes, Mutter am Horizont des Himmels - gelobt seist Du, Oh Herrin, die Du machtvoller bist als die Götter; und die acht Götter von Hermopolis zollen Dir Worte der Bewunderung. Die lebenden Seelen, die in ihren verborgenen Orten weilen, preisen Dein Geheimnis, Oh Du, die Du deren Mutter bist, Du Quelle, aus der sie entsprangen; Du bereitest ihnen einen Platz in der verborgenen Unterwelt; Du hältst ihre Körper gesund und bewahrst sie vor dem Unglück; Du machst sie stark in der Heimat der Ewigkeit.«
Als der Isiskult Rom erreicht hatte und von dort aus sich in allen Teilen des Imperiums verbreitete, entdeckten viele Gläubige in ihr die gleichen Prinzipien, die auch in anderen Formen der Göttin verkörpert waren und man verehrte sie in einer Weise, die die Christen später übernahmen. Lucius schrieb eine Hymne auf die Göttinneneinweihung, die später in christlichen Schriften wieder auftauchen sollte:
Oh Du heilige und ewige Retterin der menschlichen Rasse, immer bist Du großzügig mit Deinen Gaben für die Sterblichen. Du kümmerst Dich liebevoll wie eine Mutter um das Mißgeschick der unglücklichen Menschen. Es gibt keinen Tag und keine Nacht, keinen Augenblick der flüchtigen Zeit, während der Du nicht Deine Wohltaten verteilst. Du vertreibst die Stürme des Lebens und streckst Deine rechte Hand der Erlösung aus, mit der Du sogar das verworrendste Netz des Schicksals entwirren kannst. Du drehst die Erde im Kreis, Du gibst der Sonne das Licht, Du beherrschst die Welt. Du zertrittst den Tod mit Deinen Füßen. Die Sterne gehorchen Dir; durch Dich wechseln die Jahreszeiten und die Götter vereinigen sich und die Elemente sind Dir unterworfen. Auf Deinen Befehl wehen die Winde; die Wolken spenden die erfrischende Feuchtigkeit, die Samen keimen und die Früchte vermehren sich. Die Vögel am Himmel, die Tiere in den Bergen, die Schlangen, die durch ihr Loch spähen, der Fisch, der im Meer schwimmt, sie alle sind durch Deine Erhabenheit von Ehrfurcht beherrscht. Ich bin zu unbedeutend, um Dir genügend Lob zu spenden und auch zu arm an irdischen Gütern, um Dir geeignete Opfergaben zu überbringen. Dein göttlicher Ausdruck und Deine heiligste Gottheit werde ich für immer im geheimen Ort meines Herzens hüten und bewahren.
Der Kirchenvater Origen, der niemals in den Genuß der Heiligsprechung kam, weil die Kirche sich nach drei Jahrhunderten entschied, seine Ansichten als ketzerisch zu betrachten - übernahm das gleiche Konzept einer universalen Seele, wie es von Plotin bereits ausgesprochen wurde, und gab ihr den weiblichen Namen >Psyche<. Er schrieb: »So wie unser aus menschlichen Teilen bestehender Körper von der Einen Seele zusammengehalten wird, so muß man sich auch das Universum als riesiges lebendes Wesen vorstellen, das von einer Seele zusammengehalten wird.« Diese Aussage stimmt vollkommen mit der indischen Vorstellung der Kali-Shakti und der römischen Vision einer weiblichen Weltseele namens Anima, die »leben läßt«, überein. Für die byzantinischen Mystiker war sie Sophia, die Göttin, die alle lebenden Strukturen »in den Himmeln über den Sternen« erschuf - ihre eigenen I-deen, was die »Göttinnen im Inneren« bedeutet.
Es war eines der erklärtesten Ziele der alchemistischen Mystiker, die in der Materie gefangene Anima oder Idee zu befreien; dies war auch das Ziel der alten Weisen, die sich danach sehnten, die Nackte Göttin direkt zu sehen. Die letzte Trumpfkarte des Tarot scheint das gleiche Versprechen zu machen; ihre Zahl erinnert an die 21 Emanationen der Mutter Tara, wie die große Shakti von den Tibetern genannt wird. In einer tibetischen Hymne steht:
»Heil, Oh grüne Tara! Retterin aller Wesen! Wir beten zu Dir, steige hinab von Deinem himmlischen Wohnort im Potala, zusammen mit Deinem Gefolge von
Göttern, Titanen und Erlösern! Demütig werfen wir uns zu Deinen Lotusfüßen nieder! Erlöse uns von all unserem Leid! Oh heilige Mutter! Wir lobpreisen Dich. Oh verehrte und erhabene Tara! Du, die von allen Königen der zehn Himmelsrichtungen und der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verehrt wirst.
Diese grüne Tara war die gleiche wie Irlands Tara, Roms Terra - Mutter Erde; die Verehrung dieser Göttinnen setzte sich im gesamten Mittelalter im Untergrund fort. Noch im zwölften Jahrhundert n.Chr. wird sie in einem englischen Kräuterbuch als die heilige Göttin, »die alle Dinge hervorbringt«, verehrt, und zu der die Geister der Toten zurückkehren; die Große Mutter der Götter, »die Quelle der Kraft für Menschen und Götter; ohne Dich kann nichts geboren oder vollkommen werden; Deine Macht ist groß, Königin der Götter.« Dies sind in der Tat seltsame Äußerungen in einer vorgeblich christlichen Gesellschaft.
Auch im Tarot erschien diese Göttin wieder als das höchste »größte Geheimnis«; sie ist umgeben von den Symbolen der Jahreszeiten; sie trägt die Stäbe der Macht und tanzt den Tanz des Lebens: eine weitere Darstellung des archetypischen, unauslöschlichen Bildes im Geist jedes Kindes der Mutter. Trotz aller Anstrengungen patriarchalischer Glaubensinstitutionen in der ganzen Welt scheint ihr Bild bis zum heutigen Tage noch nicht ausgelöscht zu sein. Swami Vivekananda sagte: »Eine Vision sehe ich so klar wie das Leben selbst vor mir: es ist die uralte Mutter, die wieder erwacht ist; sie sitzt auf ihrem neu errichteten Thron, herrlicher denn je. Möge sie zu der ganzen Welt mit ihren Worten des Friedens und des Segens sprechen.«
Vielleicht war genau dies die Aufgabe des Tarot.
In jedem Fall war die letzte Enthüllung der Großen Arkana mit Sicherheit keine christliche Gottheit - nicht einmal eine neo-christliche Version der Großen Mutter. Die himmlische Jungfrau der mittelalterlichen Kirche erschien niemals nackt. Die unbekleidete Göttin jedoch war ein grundlegendes Ursymbol der Schöpfung und Neuschöpfung, und deren ewigen Kreisläufe dürfen nicht anhand der christlichen Kosmologie mit ihrer einseitigen, linearen Zeitvorstellung interpretiert werden. Das Tarot scheint viel eher darauf hinzuweisen, daß die Weltseele und der Weltenschoß essentiell identisch sind. Der die Göttin umgebende Mandorlakranz war ein verbreitetes Schoßsymbol und führt über zur nächsten Karte, >Der Narr<, ein Symbol des neugeborenen Kindes.In der Tat stellt dies einen Bezug zur alten Reinkarna- tionslehre her, jener Vorstellung einer Wiedergeburt, die den patriarchalischen Religionssystemen fremd war und das sie bekämpften, denn ihr Glauben erforderte »Dauerhaftigkeit und nicht Veränderung, Ewigkeit und nicht Transformation, Gesetze und nicht kreative Spontaneität.« Das Patriarchat verformte die Große Mutter in eine Dämonin, weil sie sowohl des Menschen »Vernichtung« als auch dessen »Erschaffung« bedeutete
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